Wenn Unglücke geschehen, löst dies in uns Menschen nach der
ersten Schockstarre bald den Reflex aus, nach Schuldigen zu suchen. Wir wollen aus dem,
was passiert ist, für die Zukunft lernen, damit so etwas nicht wieder passiert
oder zumindest weniger schlimm ausfällt.
Solange das Motiv wirklich die Suche nach dem Auslöser und nach einer sinnvollen Lösung ist, ist es soweit in Ordnung. Dann behält die Angst ihre
ursprüngliche Funktion: Leben zu erhalten. Dann wäre es einfach eine nüchterne Analyse
des Geschehens, durch die man für die Zukunft lernen kann.
Auch bei der Corona-Krise ist es so. Natürlich weiß jeder, dass niemand an der Existenz eines Virus schuldig sein kann. Aber die Krise hat viele Aspekte, bei denen nach echter oder vermeintlicher Schuld gefragt werden kann und auch gefragt wird: „Wie konnte es so weit kommen? Sind die Chinesen schuld, weil sie bei allem Drill und aller
Überwachung es nicht fertigbringen, den Handel mit Wildtieren zu unterbinden – und
damit die ganze Welt in den Abgrund stürzen? Sind es die Skiurlauber schuld, dass Europa so stark betroffen
wurde und dem Virus als zusätzliches Sprungbrett in die weite Welt diente? Oder
sind es die europäischen Verantwortlichen schuld, die die unsichtbare
Welle, die wie ein tödlicher Riesen-Tsunami
von Osten gen Westen rollte, nicht erkannten?
Schnell
droht solches Fragen zu kippen und sich zu verselbständigen, erst recht, wenn
wir persönlich zunehmend betroffen sind: „Ist es der böse Nachbar schuld, der
nicht genug aufgepasst hat, so dass ich jetzt krank bin?“ Dann geht es nicht
mehr um nüchterne Analyse, sondern um blinde Wut. Wir nutzen die Suche nach dem
Sündenbock als Ventil, weil wir es nicht ertragen, dass ein Unglück auch ohne nennenswerte
menschliche Schuld geschehen kann bzw. die Größe möglicher Schuld in keinem wirklichen
Verhältnis steht zur Tragweite des Unglücks. Wir bekämpfen dann nicht mehr den
Erreger, sondern den Menschen, machen ihn
sozusagen zum „Virus“. Dann kann es sein, dass plötzlich ein Mensch mit
asiatischer Herkunft im Zug angepöbelt wird. Oder Schlimmeres.
Und auf religiöser Seite? Da fragen wir schnell: „Wie kann
Gott das zulassen?“ Und stellen ihn an den Pranger. Gott – ein „Killervirus“?
Und weil dieser Gedanke noch unerträglicher ist und psychisch töten kann, machen wir Gott gleich zu einem Nichts, schweigen ihn tot – und denken ihn
irgendwann auch tot, indem wir unseren Sinn für Transzendenz abtöten.
Wie ging es Jesus? Schuldlos steht er vor Pilatus und wird verurteilt. Was
ist geschehen? Für welches Unglück muss er geradestehen? Selbst Pilatus, der
ihn verurteilt, muss eingestehen, dass er keine Schuld bei ihm erkennt. Es gab noch nicht einmal ein Unglück! Es gab nur immer wieder Aufstände gegen die römische
Besatzung. Davor hatten die Verantwortlichen panische Angst, weil sie die
Konsequenzen durch den Kaiser fürchteten. „Lieber den Aufstand im Keim
ersticken, als dass es nachher zu spät ist!“
Und auf religiöser Seite? Jesu Auslegung des jüdischen
Gesetzes, sein liebevoller Umgang mit ausgestoßenen Menschen und vor allem sein
Selbstverständnis, wenn er Gott seinen „Vater“ nennt und sich von ihm geliebt
und gesandt weiß, irritiert viele in der religiösen Oberschicht. „Will der eine
neue Religion schaffen? Stellt er sich über unser heiliges Gesetz?“ Neid spielt
auch eine Rolle: „Wie schafft es dieser Kerl, so gut beim Volk anzukommen – im Gegensatz
zu uns? Und wie bringt er es fertig, so viele Kranke zu heilen? Aber warum
ausgerechnet am heiligen Sabbat, wenn die Woche 7 Tage hat?“ Und auch bei ihnen entsteht das Unglück in den Köpfen.
Jesus wird zum Tod verurteilt. Es scheint ihn nicht zu
wundern. Er sagt zwar kurz noch einmal, was er zu sagen hat, lässt sich aber
nicht auf weitere Diskussionen ein. Mit Menschen, die einem jedes Wort im Mund umdrehen, bringt eine Diskussion nichts. Sie werden
ihre Pläne doch durchsetzen.
Aber er ist auch nicht einfach passiv. Er nimmt sein Schicksal
aus freiem Herzen auf sich, solidarisiert sich mit allen Verurteilten der Welt,
ist jedem verurteilten Menschen nahe. Aber nicht nur den schuldlos Verurteilten!
Nein, auch den schuldig Verurteilten! Es geht ihm zuerst um den Menschen. Und in dieser bitteren Zeit müssen wir an eine weitere Gruppe denken: an die vielen Menschen, die als dem Tod Geweihte aus der „Triage“ kommen und nun vom Corona-Virus langsam erstickt werden. Sie müssen sich auch wie Verurteilte fühlen – auch wenn niemand sie verurteilen will -, weil sie die Voraussetzungen nicht mehr erfüllten, um noch einmal auf die Seite des Lebens zu kommen. Allen diesen Menschen ist der zum Tod verurteilte Jesus mit seiner unendlichen göttlichen Liebe nahe. In seinen Augen ist der Mensch immer
zuerst ein unendlich Geliebter. Und er weiß, dass allein diese unendliche Liebe den Menschen erlösen kann – wenn der Mensch sie annimmt. Aber auch wenn er sie nicht annimmt, gilt sie ihm weiter – und wartet. Das lebt Jesus – mit Leib und Seele, mit seiner ganzen Person. Und steht zu dem, was er lebt und vertritt. Er steht dazu, mit göttlicher Souveränität, vor dem Richter dieser Welt. Er nimmt alle Schuld und alles Verurteilt-Sein der Menschen auf sich. Als verkörperte Liebe
Gottes, als Mensch gewordener Gott – und als „Sündenbock“ in den Augen der Menschen – steht er vor Gericht.
Barmherziger Gott, erhalte uns einen nüchternen und liebevollen Blick. Hilf uns, gemeinsam die Herausforderung zu bestehen, so gut wir können. Festige unser Herz in der Demut, die die Realität annimmt. Aber schau, der Druck ist riesig. Hab Erbarmen mit uns, Du siehst, wie wir uns abplagen. Schenke uns Trost, innere Kraft und die nötige Inspiration. Vor allem: Lass uns gestärkt aus diesem globalen Reset hervorgehen – vielleicht auch menschlicher. Sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.