Der zusammengebrochene Gott


Der „dritte Fall“ Jesu wird in der Kunst meist als der heftigste dargestellt. Jesus scheint zu kapitulieren. Sein Kreislauf bricht zusammen, er wird ohnmächtig und fällt aufs Gesicht, das Kreuz fällt auf ihn.

Ein erschütterndes Bild. Was ist das für ein Gott, der sich uns so zeigt? Ein Gott, der von der Last, die er zu tragen hat, überwältigt wird? Kein Wunder, wenn Menschen spätestens hier zu zweifeln beginnen und sich fragen: Wie kann das sein? Wird hier nicht eine sehr menschliche Erfahrung des Zusammenbruchs auf Gott übertragen, sozusagen auf ihn abgewälzt, weil sie so unerträglich ist? Ähnlich wie wenn man sich an Menschen gesundstößt, sie herabsetzt, sie erbärmlich macht, um selbst groß dazustehen? Aber warum sollte der Mensch das tun, wenn es um Gott geht? Suchen wir nicht eher einen Gott, der uns aufhebt und trägt, und nicht einen, der überwältigt wird? Was hätten wir davon?

Es bleibt erschütternd. Alle theologischen Deutungsversuche können und müssen dieses Geschehen zwar in einem größeren Zusammenhang sehen, der die Auferstehung gläubig mit einbezieht, aber an der Erschütterung dieses Bildes kommt dennoch niemand vorbei, der die christliche Botschaft ernst nehmen will.

Viele Menschen, die unter der Last ihres Lebens zusammenzubrechen drohten, haben keinen Bogen um dieses Bild gemacht. Sie ließen sich berühren von der zunächst verstörenden Botschaft. Sie sahen zu ihren Füßen einen „heruntergekommenen“, zusammengebrochenen, ohnmächtigen Gott liegen, der sich mit ihnen zutiefst solidarisiert. Und der sie so von der tiefsten Ebene ihrer Existenz her neu aufrichtet – in einer Weise, zu der kein Mensch Zugang hätte. Es ist die Weise göttlicher Liebe. Und wenn sie das Herz eines Menschen plötzlich trifft, kann sie ein Beben auslösen und diesen Menschen in einer Weise umwandeln, die dem gesamten Leben einen neuen Sinn, eine neue Richtung gibt. Es gibt Menschen, die das tatsächlich so erlebt haben und von einer solchen Erfahrung ihr Leben lang zehren.

Diese Art göttlicher Liebe kann aber nicht einfach „nachgeahmt“ werden. Wir helfen einem Corona-Kranken etwa nicht, indem wir uns aus Solidarität mit ihm bewusst selbst infizieren und uns neben ihn auf die Intensivstation legen. Doch wo unvermeidbares Leid, von dem wir uns nicht so schnell oder gar nicht befreien können, uns trifft, sind wir immer frei, es im Geist der Solidarität zusammen mit anderen oder für sie zu tragen, ihm einen Sinn, eine Richtung als Ausdruck der Liebe zu geben. Diese Freiheit bleibt uns immer, und damit sind wir in der Lage, Sinnlosigkeit aufzubrechen, solange wir bei Bewusstsein und in der Lage sind, eine innere Haltung einzunehmen. So tat es etwa Edith Stein, als sie bei ihrer Verhaftung durch die GESTAPO zu ihrer Schwester Rosa sagte: „Gehen wir für unser Volk.“ Oder Viktor E. Frankl, der sich im Elend und in der Ohnmacht des KZ vorstellte, wie er später seinen Studenten von seinen Erfahrungen und Erkenntnissen im KZ erzählen würde. Er trug das Leid quasi für sie, um ihnen später wichtige Lebenserfahrungen weitergeben zu können. Und er wird später glaubwürdig sagen, das habe ihm das Leben gerettet. Bei jedem Leid, das mich trifft, kann ich mich innerlich mit Menschen verbinden, und ihnen im Herzen sagen: „Für dich.“ Auch wenn es „nur“ im Herzen gesagt ist: Es bleibt nicht ohne Frucht. Ich kann in meinem Leid an ihrem Leben und Leiden Anteil nehmen, ihnen auf der Ebene des Herzens – und wenn’s geht auch äußerlich – Heil und Segen zusprechen. Zu so etwas sollte man sich aber nicht auf Biegen und Brechen zwingen. Es muss von innen wachsen und es muss „stimmen“, Ausdruck der Liebe sein, nicht des Zwanges. Aber wenn – mit Jesus unterwegs – der Durchbruch von der Ohnmacht zur Liebe gelingt, fließt eine ungeheure Kraftquelle mitten in der Wüste der Ohnmacht.  

Wir erleben gerade weltweit eine Zeit großer Ohnmacht. Millionen Menschen brechen unter der Last eines tückischen Virus zusammen, und viele von ihnen werden sich auf dieser Welt nie wieder aufrichten. Und so viel Anderes bricht im Moment mit zusammen: Gesundheitssysteme, Krankenhausbetriebe, kirchliches Leben, kulturelle Angebote, Lieferketten, Volkswirtschaften, Existenzen, soziale Strukturen – und nicht zu vergessen die psychische Stabilität sehr vieler Menschen. Das ist ein weltweiter Ausnahmezustand, dessen Folgen wir noch nicht absehen können. Und doch offenbart er, was menschliche Wirklichkeit angeht, nichts „Neues“. Er deckt nur auf und verschärft auf tragische Weise, was menschliches Leben immer bedroht und jeden Menschen todsicher einmal einholt: der endgültige Zusammenbruch der Kräfte, wenn die Stunde des Todes gekommen ist.

Jesus, wenn Leid sehr viele Menschen gleichzeitig bedrängt, hörst Du plötzlich viel von uns! Überall wird gebetet: online, still, mit Glockengeläut… Immer wieder soll sich die ganze Welt zu bestimmten Zeiten betend im Geist versammeln, selbst Politiker rufen dazu auf. Das muss Dich doch rühren! Nur – wie sehen wir Dich? Passt unsere Zuflucht zum Allmächtigen zu Deinem ohnmächtigen Zusammenbruch unterm Kreuz? Klar, Du bliebst ja nicht da liegen. Du bist auch der Auferstandene, der Gott, der Tod und Hölle besiegt hat. Wir haben also allen Grund, zu Deiner Allmacht Zuflucht zu nehmen – während wir zugleich das Unsrige tun. Aber – bist Du der Gott, der bloß vor Viren und anderen Gefahren schützt bzw. diese mit einem Fingerschnipsel unschädlich machen kann? Oder bist Du die unendliche Liebe, die uns durch das Nadelöhr des Vertrauens führt? Lass uns Dich und Deine Liebe zu uns klar erkennen, gerade da, wo sie zunächst fast verstörend auf uns wirkt, weil wir sie noch nicht verstehen. Führe uns durch Dein Leiden und Kreuz in ein Leben der Fülle ewiger Liebe, das durch nichts mehr zerstört werden kann. Sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.

Dieser Beitrag wurde unter Coronavirus, Kreuzweg veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.