Es gibt für einen Menschen kaum etwas Demütigenderes, als wenn ihm die Kleider vom Leib gerissen werden und er nackt und schutzlos ausgeliefert vor gehässigen Menschen steht. Jesus ist es so ergangen und mit ihm sehr vielen Menschen, die auf diese Weise gedemütigt werden: Menschen, die sexuell missbraucht werden – gerade jetzt während der Ausgangssperre in vielen Ländern bekommt niemand mit, was in mancher Familie geschieht… -, und auch Menschen, die um ihres Glaubens willen oder aus anderen Gründen verfolgt werden.
Es gibt aber noch mehr Weisen, wie Menschen ihres Schutzes beraubt werden. Normalerweise richten wir uns in unserem Leben so ein, dass wir einigermaßen gut leben können. Wir haben eine soziale Struktur, Familie, Freunde, ein Zuhause, Aufgaben, Einkommen, Sprache, Kultur, Gewohnheiten… Das alles ist nicht überflüssiges Beiwerk, es schützt uns, es hält uns stabil, es ermöglicht uns, uns nach außen auszudrücken, Beziehung aufzunehmen, uns zu entfalten. Und das gehört ganz wesentlich zu uns. Doch vieles davon bricht zur Zeit für sehr viele Menschen weg. Für die einen ist es nur eine interessante Erfahrung, sie begrüßen vielleicht auch die Ruhe, für andere ist es wirklich tragisch. Es sind die, die sowieso schon durch alle Raster fallen: Flüchtlinge (in bestimmten Gegenden), Obdachlose, extrem arme Menschen, um nur einige Gruppen zu nennen. Die Corona-Krise reißt ihnen quasi ihr letztes Hemd vom Leib, raubt ihnen ihre letzte Würde.
Nackt und schutzlos steht Jesus da vor der gaffenden Menge, der Leib mit Wunden übersät. Nach all den Strapazen wird ihm das Letzte noch genommen, buchstäblich das letzte Hemd. Wenn Einer den heute schutzlos Ausgelieferten nahe ist, dann Jesus. Vielleicht fragen wir arrogant: „Was hilft ihnen das?“ Wir sollten besser fragen: „Wenn Jesus ihnen so nahe ist, sollten wir es dann nicht auch sein, die wir vorgeben, an Jesus zu glauben? Üben wir nicht sogar Verrat an ihm, wenn wir nicht alles versuchen, um ihr Schicksal zu erleichtern und ihre Würde zu schützen? Sollten wir die Würde des Menschen nicht über alles schützen, und zwar grundsätzlich, unabhängig von seinem Verhalten, Aussehen, Herkunft usw.? Sollte das nicht unser erstes Anliegen sein?
Jesus, wenn wir den leidenden Menschen nahe sind, dann sind wir Dir nahe. Aber oft fühlen wir uns machtlos, unsere Hände sind gebunden. Viele Situationen sind so komplex, dass wir oft gar nicht wissen, was das Richtige wäre. Diese Einsicht lässt uns manchmal wie gelähmt auf unserer Couch hocken, während wir die schrecklichen Bilder an uns vorbeiflimmern lassen. Wir unterschätzen das Kleine, das Wenige, das wir tun können, um Menschen wertzuschätzen und ihre Würde zu schützen. Es ist wenig, und hat doch große Wirkung. Gib uns Klarheit, Phantasie und Mut, um alle Menschen in ihrer Würde zu achten und etwas zu ihrem Schutz beizutragen – aus der Quelle Deiner bedingungslosen Liebe heraus. Sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.