Gegenseitige Anteilnahme

Auf dem Kreuzweg, so wie er seit Jahrhunderten nachgegangen und betrachtet wird, finden wir nicht nur die Stationen mit den drei Stürzen Jesu, die sich ins fromme Gedächtnis der Christen eingebrannt haben, sondern auch drei Begegnungen auf dem Weg, die Jesus selber viel bedeutet haben dürften. Es ist wohl nicht übertrieben, diese Begegnungen auch als drei „Aufrichtungen“ zu deuten, als Zeichen menschlicher Nähe und Ermutigung, die ihn wieder aufrichteten. Man darf ja nicht vergessen, dass der Trost vom himmlischen Vater für Jesus in diesen letzten Stunden seines Lebens nicht mehr spürbar war, wie sein Schreien zum Vater am Kreuz erkennen lässt. Der Vater verließ ihn sicher nicht, aber er war in dem unvorstellbaren körperlichen und seelischen Schmerz nicht mehr spürbar. Jesus sah nur noch ein paar Menschen, die ihm nahe waren. Diese kurzen Begegnungen müssen für ihn überaus wichtig gewesen sein.

Die Station mit Simon von Zyrene zählen wir jetzt nicht zu den drei Begegnungen, weil Simon nur gezwungen wurde, Jesus zu helfen. Von einer Begegnung ist dort nicht die Rede. Auf den drei Wegstationen, an denen ausdrücklich Begegnungen im Fokus stehen, geht es um Frauen, die Jesus nahe sein wollten: seine Mutter, ferner die nicht näher bekannte und auch nicht biblisch bezeugte Veronika (wahrscheinlich eine legendäre Gestalt, deren Name „Vera Icona“ bedeutet und damit auf die Erzählung des Schweißtuchs verweist, aber sie steht eben für jene Menschen, die Anteil nehmen und Leid zu lindern versuchen) und schließlich die weinenden Frauen am Wegrand. Auch da ist ausdrücklich von „Begegnung“ die Rede. Letztere sind die einzigen, mit denen Jesus auch spricht. Sonst hören wir während des ganzen Weges kein Wort von ihm.

 „Weint nicht über mich, weint über euch und eure Kinder“, sagt Jesus zu den Frauen am Wegrand. Wie hat er das gemeint? Jesus wollte wohl kaum ihre Anteilnahme abweisen. Sein Wort war nicht als Vorwurf gemeint, sondern eher als ein Spiegel. Vielleicht wollte Jesus ihnen in etwa sagen: „Ja, ich leide, aber nicht blind. Ich leide mit euch und euren Kindern, denn ihr habt in eurem Leben schwere Lasten zu tragen, an die ihr jetzt im Moment nicht denkt, weil ihr wegen mir erschüttert seid. Während ihr mich leiden seht und über mich weint, bin ich in Wirklichkeit euch nahe auf euren Leidenswegen.“ Es ist ein gegenseitiges Anteilnehmen. Die Liebe, die in seinen Worten mitschwingt – davon dürfen wir ausgehen – wird  durch den Tod hindurch siegen. Und an ihrem Sieg werden die weinenden Frauen ebenso Anteil haben, nachdem sie an Jesu Leiden Anteil hatten.

Von dieser Szene aus richten wir erneut unseren Blick auf den schwersten Aspekt der Corona-Krise: die vielen einsam Leidenden, deren Alltag sich jetzt quasi ohne Begegnungen abspielt. Das sind nicht nur die Corona-Kranken auf den Intensivstationen, die sich nach ihren Liebsten sehnen, das sind auch und vor allem ältere Menschen, die unter dem „Kontaktverbot“ empfindlich leiden. Es gibt wohl kaum eine Krise, bei der so viele Menschen so sehr auf sich selbst zurückgeworfen werden wie diese. Das macht sie so gespenstisch. Sicher gibt es viele beeindruckende Hilfen und Initiativen, Gott sei Dank gibt es auch Fernsehen und Internet, „Tele-Konferenzen“ und darin auch echte Begegnungen. Aber nicht alle älteren Menschen sind damit vertraut, und vorbereitet waren sie schon gar nicht. Die soziale Erfahrung während dieser Krise heißt für viele von ihnen „Einsamkeit“, Mangel an Begegnungen. Und das hinterlässt Spuren.

Wir reden jetzt viel davon, dass ältere und vorerkrankte Menschen „geschützt“ werden müssen. Aber was ist damit gemeint? Meistens doch nur der Schutz vor dem Virus. Der Schutz vor der körperlichen Erkrankung hat fast überall absolute Priorität. Natürlich hat das seine Gründe. Aber darf darüber die Seele des Menschen außer Acht gelassen werden? Man würde doch einen bettlägerigen Menschen auch nicht einfach in seinem Dreck lassen oder ihm nichts zu essen geben! Ist die Seele denn weniger wert, dass sie nicht geschützt zu werden braucht? Haben sterbende Menschen nicht das Recht, ihre Liebsten noch einmal zu sehen? Wer schützt die Menschen vor abgrundtiefer Einsamkeit? Um Anteilnahme zu leben, haben heilige Menschen früher auch Ansteckungen riskiert, weil ihnen die Seele des Menschen wichtig war. Wichtiger als der Leib. Auch Jesus kannte keine Berührungsängste gegenüber Aussätzigen. Er schenkte Begegnung denen, die von allen gemieden wurden. Und auf seinem letzten Weg schenkten diese Frauen nun ihm Begegnung, während sich fast alle anderen, einschließlich der Jünger, entsetzt von ihm abwandten.   

Jesus, so menschlich kommst du daher! Schwach, schwankend, durstig nach ein wenig Trost und Anteilnahme… Erhalte uns den rechten Blick und das gesunde Maß für den Menschen und seine tiefen Bedürfnisse. Bewahre uns davor, aus Angst und Panik ihn nur noch wie eine Maschine zu sehen, die zu funktionieren hat. Hilf uns, den Leidenden wirklich nahe zu sein. Und wo wir dies äußerlich nicht können, sei Du ihnen nahe. Sei gepriesen in Ewigkeit. Amen,

Dieser Beitrag wurde unter Coronavirus, Kreuzweg veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.